Samstag, Juni 17, 2006

Die vertauschte Braut


An einem einsamen Ort, abseits von anderen Menschen, lebte in alten Zeiten ein verwitweter Schuster mit seiner einzigen Tochter.

Da ließ eine böse Witwe durch andere Leute dem Schuster bestellen, dass sie ihn gern heiraten möchte. Die Tochter bat aber den Vater mit Tränen in den Augen, diese Frau zu meiden, denn alle guten Menschen sagten, dass sie eine Hexe sei.

Schließlich hatte der Schuster das Gerede der Leute satt, holte einen zerrissenen Stiefel unter dem Tisch hervor, warf ihn der Tochter zu und sagte: „Wenn dieser Stiefel Wasser hält, so dass kein Tropfen Wasser auf die Erde fällt, dann werde ich die Frau freien.“

Die Tochter lief guter Dinge, den Befehl des Vaters auszuführen, denn mit einem so zerrissenen Stiefel würde man nicht mal eine Handvoll Wasser schöpfen können. Sie meinte: Ehe ich drei Schritte vom Brunnen fort bin, ist der Stiefel leer.

Doch schau nur – sobald sie das Wasser hineingegossen hatte, war der Stiefel wie zugelötet, und kein Tropfen floss aus den Löchern heraus.

So war wirklich anzunehmen, dass die Witwe eine Hexe war. Der Schuster hatte aber nun mal sein Versprechen gegeben und konnte es jetzt nicht mehr brechen; er war gewohnt, sein Wort zu halten. Ungeachtet der Bitten der Tochter freite er die böse Witwe, die ebenfalls eine Tochter hatte.

Zwischen den beiden Kindern gab es freilich einen Unterschied: den nämlich, dass die Tochter der Stiefmutter hässlich und schwarz, die Schusterstochter aber schön wie ein Blütenzweig war.

Am ersten Tag nach der Hochzeit zeigte sich die Stiefmutter der Tochter ihres Mannes gegenüber sehr freundlich. Sie gab ihr am Morgen frische Milch zum Gesichtwaschen, und sie ließ die eigene Tochter die andere bedienen, was allerdings der Stieftochter gar nicht angenehm war.

Am nächsten Tag kam es freilich schon etwas anders. Die Stiefmutter ließ die Tochter ihres Mannes nun nicht länger schlafen und gab ihr auch keine Milch mehr zum Gesichtwaschen.

Am dritten Tag aber wurde es ganz schlimm: Sie wurde noch vor Morgengrauen beim ersten Hahnenschrei geweckt und musste ihre Halbschwester bedienen. Jetzt gab die Stiefmutter jeden Tag ihrer hässlichen und bösen Tochter frische Milch zum Trinken und zum Gesichtwaschen. Die Stieftochter dagegen musste sich mit trockenen Brotkrusten begnügen. Sie trieb ihre Stieftochter überall an, wo es nur möglich war, obwohl diese ganz von allein fleißig arbeitete.

Der Neid und der Hass der Stiefmutter wuchsen von Tag zu Tag mit der Schönheit der Stieftochter. Schließlich konnte sie die andere überhaupt nicht mehr sehen und suchte nach einer Gelegenheit sie aus dem Hause zu treiben.An einem Wintertag, bei Schneegestöber, trat die Stiefmutter wieder an die Stieftochter heran, reichte ihr aus Papier gefertigte Kleider und sagte: „Du musst jetzt diese Kleider anziehen und darfst nicht eher zurückkehren, als bis du mir einen Korb voll frischer Erdbeeren herbringst.“

Mit diesen Worten nahem sie der Stieftochter alle Kleider weg und gab ihr ein Kleid aus Papier sowie einen großen Korb, in dem trockene Brotkrusten als Mittagessen lagen. Die Stieftochter nahm aber die Sachen dankend entgegen und trat mit Tränen in den Augen auf den Hof, wo der starke Frost sie zu zerreißen drohte.

Sie begann zu laufen, um sich zu erwärmen, und gelangte schließlich vor ein sauberes Haus, in dem mehrere Graugekleidete alte Männer saßen. Sie begrüßte sie, wünschte ihnen Kraft zur Arbeit und bat sie um Erlaubnis, sich ein wenig aufwärmen zu dürfen. Die Männer traten von der Ofenöffnung zurück und ließen das Mädchen sich wärmen. Die Stieftochter nahm die trockenen Brotkrusten aus dem Korb und begann zu essen.

Da sagte einer der Alten: „Was isst du da? Gibst du uns auch etwas ab?“

Das Mädchen antwortete freundlich: „Gern würde ich euch etwas geben, wenn ich nur etwas zu geben hätte; aber ich muss selbst trockene Krusten nagen, die keinem schmecken würden. Doch wenn ihr es nur wünscht, so will ich gern mein Mittagsbrot mit euch teilen.“

Mit diesen Worten gab sie jedem Alten von dem, was sie bei sich hatte, vergoss aber zugleich bittere Tränen dabei. Ein Alter fragte, warum sie weine, und das Mädchen erzählte ihm von seinem Leid.

„Aber das ist doch gar nicht schlimm!“ sagte der Alte. „Nimm dort die Schaufel und den Besen, fege den Hof frei vom Schnee, und schon wirst du Erdbeeren finden.“

Das Mädchen tat alles, wie ihm befohlen wurde, und fand unter dem Schnee so viele Erdbeeren, wie es noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Bald war der Korb voll, das Mädchen bedankte sich, nahm von den Männern Abschied und eilte nach Hause. Die Männer schauten ihr lange nach.

Schließlich sagte einer von ihnen: „Wünschen wir jeder diesem guten Mädchen etwas zum Andenken.“

Der erste sagte: „Ich wünsche, dass ihr mit jedem ersten Wort, mit dem sie zu sprechen beginnt, ein Goldstück aus dem Munde fällt.“

Der zweite sagte: „Ich wünsche, dass das Mädchen mit jedem Tag noch schöner wird.“

Der dritte: „Dass sie einmal die Frau eines Königs wird.“

Der vierte wünschte, dass sie mit jedem Tag schlanker werde, und der fünfte, dass sie unterwegs warme Kleider bekomme.

Die Stiefmutter saß gerade am Fenster, als die Tochter mit dem Korb Erdbeeren nach Hause kam.

Als sie das Mädchen in so feinen Kleidern sah, glaubte sie, mit ihr sei etwas Außergewöhnliches geschehen, und eilte der Stieftochter freundlich entgegen. Sie brachte sie in die Stube, machte ihr Eierkuchen, setzte sie vor den Ofen und forderte sie auf zu erzählen, wo sie die vielen Erdbeeren herhabe. Sie dachte daran, am nächsten Tag auch die eigene Tochter nach den Beeren zu schien.

Die Stieftochter begann zu sprechen, und ein Goldstück fiel ihr aus dem Munde. Sie erschrak selbst, doch noch mehr erschrak die Stiefmutter. Äußerlich blieb sie wohl freundlich, doch im Herzen wünschte sie der Stieftochter Verderben. Sie wünschte auch ihrer eigenen Tochter ein solches Glück, ließ sie die warmen Kleider anziehen, die die Stieftochter erhalten hatte, buk ihr Eierkuchen und schickte sie auf den Weg, den ihr die Stieftochter beschrieben musste.

Die Tochter gelangte ebenfalls an das Haus, das ihr die Halbschwester bezeichnet hatte. Sie ging an dem hässlichsten Alten wortlos vorbei, und einen anderen, der vor dem Ofenloch saß, schrie sie mit böser Stimme an: „Pack dich, Halunke, hast hier lange genug geschmort, lass nun mich an die Wärme!“

Wortlos erfüllte der Alte den Befehl. Die hässliche Tochter setzte sich vor das Ofenloch und begann das schmackhafte Mittagessen zu verzehren.

Die Alten traten näher und baten auch um ein Stückchen.

Die hässliche Tochter jedoch erwiderte: „Habe ich vielleicht die Eierkuchen deshalb hergeschleppt, um sie an euch zu verfüttern? Haltet´s Maul und lasst mich essen!“

Als sie gegessen hatte, sagte sie herrisch: „Zeig mir jetzt, wo man hier Erdbeeren finden kann!“

Ein Alter erwiderte: „Nimm dir dort die Schaufel und den Besen und fege den Schnee vom Hof, bis er ganz schneefrei ist; dann wirst du finden, was du wünschst!“

„Das könnte euch so passen; selbst wollt ihr euren Hof nicht ausfegen, und da soll ich es für euch tun, daraus wird aber nichts.“

Mit diesen Worten trat sie aus der Tür hinaus, und einer der Alten sprach: „Wünschen auch wir ihr etwas zum Andenken an ihren Besuch.“

Der erste sagte: „Mit dem ersten Wort einer jeden Rede, soll ihr eine Kröte aus dem Mund fallen!“

Der zweite: „Sie soll mit jedem Tag hässlicher werden!“

Der dritte: „Sie soll niemals heiraten!“

Als die Tochter nach Hause kam und zu sprechen begann, fiel ihr eine Kröte aus dem Munde und sprang zur Tür hinaus. Seit dieser Zeit gibt es auch Kröten auf dieser Welt.

Nun fing die Stiefmutter an, ihre Stieftochter noch mehr zu hassen und mit Arbeiten zu quälen; sie gab ihr keine Seife mehr zum Kleiderwaschen und verlangte, dass die Kleider dennoch sauber gewaschen sein sollten.

Eines Tages wusch die Stieftochter noch am späten Abend am Brunnen, als ein fremder, schöner junger Mann an sie herantrat und sie nach dem Wege fragte.

Sobald sie zu sprechen begann, fiel ein Goldstück in den Schlitten des fremden Mannes, der kein andrer war, als der junge König dieses Landes.

Der König staunte sehr über die Schönheit des Mädchens und wollte sie zur Frau nehmen. Er bat sie, mit ihr zu ihren Eltern zu gehen, doch das Mädchen wollte das nicht, und sie flohen heimlich.

Bald wurde eine schöne Hochzeit gefeiert, und der König war froh, eine so schöne Frau bekommen zu haben, wie man keine zweite finden konnte.

Das junge Paar lebte eine Weile glücklich, doch schließlich fand die die böse Stiefmutter ihre Stieftochter wieder und begann sie nun noch mehr zu hassen. Aber sie konnte auf keine Weise an sie herankommen.

Einmal jedoch, als die Königinniederkommen sollte, trat eine sehr ordentlich gekleidete Alte an den König heran und bot sich an, der Königin in ihrer schweren Stunde zu helfen. Der König nahm das Angebot mit Freude an und vertraute seine Gemahlin vollständig der Pflege der Alten an.

Am nächsten Morgen verkündete man dem ganzen Volk die Freudenbotschaft, dass die Königin einen schönen gesunden Sohn zur Welt gebracht habe.

Der König kam oft seine Frau zu besuchen. So konnte die böse Hexe der Frau des Königs nichts antun.

Einmal gab sie dem König den Rat, er möchte seine Frau mit ihr zusammen in die Badestube schicken, denn sonst würde sie nicht gesund werden. Der König erfüllte ihren Wunsch und schickte seine Frau in die Badestube. Doch sobald sie in die Badestube gelangten, brachte die böse Hexe die Frau des Königs um und setzte die eigene hässliche Tochter an ihre Stelle.

Der König erschrak sehr, als er seine Frau so verändert fand. Aber die schlaue Alte verstand es mit listigen Reden, ihn irrezuleiten, so dass er glaubte, es sei wirklich seine Frau, die durch die Krankheit hässlich geworden sei.

Der Koch bemerkte, dass die Königin die ganze Nacht hindurch beim Licht wachte.

Er wurde neugierig und wollte wissen, was die Königin dort mache.

Plötzlich flog eine Buntgefiederte Ente durch das Fenster hinein, drehte sich dreimal mit dem Kopf gegen Norden, und schon stand die frühere Königin vor dem Bett des Kindes, nahm es heraus, nährte und herzte es, verwandelte sich dann zurück in die Ente und flog wieder davon.

So kam sie jede Nacht um ihr Kind zu besuchen.

Schließlich trat der Koch an die Königin heran und fragte, wieso die richtige Königin sich in eine Ente verwandle und warum ein fremder Mensch an ihrer Stelle im Krankenbett liege.

Die Frau des Königs erzählte, auf welche Weise die böse Stiefmutter sie hintergangen und die eigenen Tochter an ihre Stelle gesetzt hatte.

„Aber wenn der König mich zurückhaben möchte, so soll er sein Schwert nehmen und mir, wenn ich Hereinfliege, den Kopf abhauen, dann werde ich wieder zum Menschen. Wenn er es aber in der kommenden Nacht nicht tut, so wird er mich für immer verlieren, denn morgen ist es die letzte Nacht, in der ich das Kind besuchen kann.“

Der Koch erzählte dem König, was er gehört und gesehen hatte, und am nächsten Abend stand der König schon zeitig bereit. Sobald die Ente hereinflog, schlug er ihr mit dem Schwert den Kopf ab, und seine frühere Frau stand vor ihm.

Jetzt nahm er die falsche Königin und ihre Mutter und ließ sie zusammen in ein Fass aus Eichenholz stecken, das mit eisernen Nägeln gespickt war, so dass das Fass innen einer Wolfsfalle glich. Man ließ sie im Fass von einem Berg ins Meer hinabrollen. So fand die böse Hexe ihr Ende.


Aus: Estnische Volkmärchen, Diederichs 1990, Nr. 53